Wing Tsun-Kung Fu-Legenden!

Von Yip Man über Bruce Lee bis heute. Kampfkunstlehrer Michael Derpsch erklärt, was man über die Entwicklung von Wing Tsun-Kung Fu wissen sollte.

Am Anfang aller Dinge steht eine Idee. So war es auch beim Wing Tsun-Kung Fu. Während der Qing-Dynastie (1662-1722) entwickelte die Nonne Ng Mui nach und nach ein Kampfsystem, welches es körperlich schwächeren Personen ermöglichen sollte, mit der kraftvollen Shaolin-Kampfkunst der Mönche konkurrieren zu können. Ihr Wissen gab sie an ein Mädchen weiter, das sich gegen einen lokal ansässigen Kämpfer zur Wehr setzen musste, der sie immer wieder bedrängte. Dieses Mädchen hieß Yim Wing Tsun (Yim „Geheimnis“, Wing „preisen“, Tsun „Frühling“). Eine neue Kampfkunst war geboren: Das Wing Tsun-Kung Fu

Viele Jahre wurde dieses Kung Fu-System in geheimen Zirkeln und verschworenen Familien unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit weiter entwickelt und immer weiter verfeinert, so dass die chinesische Öffentlichkeit nur Mythen und Erzählungen um dieses sagenhafte Kung Fu-System zu berichten hatte, nicht aber wirklich z.B. als Schüler teilhaben konnte.

Yip Man und Wing Tsun-Kung Fu

Dies änderte sich als ein Kampfkünstler namens Yip Man (oder auch Ip Man) im Zeitraum von 1893–1972 auf die Kung Fu-Bühne trat. Auch er erlernte Wing Tsun in geheimen Kampfkunstzirkeln, doch als Lehrer ging er einen bis dato völlig neuen Weg: Er gründete eine der ersten öffentlich zugänglichen Kung Fu-Schulen und lehrte seinen Familienstil: Wing Tsun-Kung Fu. Schnell wurde er in China damit sehr bekannt. Er führte erfolgreich mehrere Kung Fu-Schulen. 1953 nahm er einen damals unbekannten jungen Mann mit chinesisch-amerikanischen Wurzeln als Schüler auf: Bruce Lee.

Die Anhänger Yip Mans forderten gerne Schüler anderer Kung Fu-Schulen zu sportlich fair ausgetragenen Kämpfen heraus, an denen sich auch Bruce Lee regelmäßig beteiligte. Bei einem dieser Kämpfe verletzte Bruce einen seiner Gegner so stark, dass dessen Eltern Anzeige bei der Polizei erstatteten. Die Polizei übergaben Bruce der Obhut seiner Eltern mit dem Hinweis, dass bei weiteren Vergehen mit einer Gefängnisstrafe für ihn zu rechnen sei. Aufgrund dieses Vorfalls und um zu gewährleisten, dass ihr Sohn weiterhin die amerikanische Staatsbürgerschaft würde behalten können, beschlossen seine Eltern, den 18-Jährigen nach San Francisco zu schicken.

Bruce Lee und Jeet Kune Do

Da Bruce Lee als junger Mann in Amerika Geld verdienen musste, begann er, Kampfkunstunterricht zu erteilen. Er nannte diesen Unterricht nicht Wing Tsun, zog aber trotzdem damit den Zorn seines Wing Tsun-Lehrers auf sich. Denn im alten China wurde das Wing Tsun in einem „familiären“ Charakter jeweils von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Der Lehrer, der die persönliche Verantwortung für die gesamte Ausbildung der Schüler hatte, wurde als „Vater-Lehrer“ (Sifu) angesehen. In Hongkong wurden zwar die ersten öffentlichen Schulen von Yip Man gegründet, aber obwohl damit der Unterricht im Wing Tsun stärker einen kommerziellen und „modernen“ Charakter annahm, war es nach traditionellen chinesischen Regeln einem Sihing wie Bruce Lee (Bruder-Lehrer) nur erlaubt, Schüler zu unterrichten, wenn er von seinem Sifu (Vater-Lehrer) die Erlaubnis dazu bekam.

Daher wurde er von Yip Man verstoßen und Bruce Lee entwickelte aus seinen Kampfkunstwurzeln Wing Tsun seinen eigenen Stil, welcher anfangs „nicht klassisches Kung Fu“ anfangs nannte, heute noch bekannt unter Jeet Kune Do.

Noch bevor er seinen Stil Jeet Kune Do für sich vollenden konnte, starb Bruce Lee. Aber seine Karriere als Schauspieler machte ihn weltberühmt und hatte zwei weitreichende Effekte: Kung Fu wurde ebenfalls weltberühmt. Damit rückte zudem sein ehemaliger Lehrer in ein von ihm ungewünschtes Interesse. Yip Man wurde bekannt.

Viele Menschen wollten Kung Fu und insbesondere alles Lernen, was mit Bruce Lee zu tun hatte. Und da er in seinem eigenen Stil eigentlich keine Lehrer ausgebildet hatte, sondern nur fortgeschrittene Schüler Jeet Kune Do weitergeben konnten, wollten sie das lernen, was Bruce Lee lernte: Wing Tsun.

Wing Tsun-Kung Fu in Deutschland

So brachte 1976, etwa vier Jahre nach dem Tod von Yip Man, ein junger Deutscher Wing Tsun-Kung Fu in der Person von Leung Ting nach Deutschland und gründete die erste Wing Tsun Schule in diesem Land. Andere ehemalige Schüler Yip Mans wie Lok Yiu, Wong Sheung Leung oder William Cheung folgten und brachten eigene Schulen in Deutschland heraus, um so von hier aus ganz Europa zu erobern.

Da man aus dem Chinesischen nicht direkt in die deutsche Sprache übersetzen kann, nannte jeder dieser Lehrer seinen Stil etwas anders: z.B. Ving Tsun (diese Übersetzung wurde auch von Yip Man direkt benutzt), Wing Chun (die heute am weitesten verbreitete Übersetzung), Ving Chun oder Jong Chun Quan, wie das kantonesische Wing Tsun auf Mandarin genannt wird. Unabhängig von der Schreibweise der Familienlinie oder dem Schulsystem, die Wurzeln und der Charakter kommen vom Wing Tsun.

Die Grundidee ist stets, dass eine schwächere Person eine stärkere Person bezwingen kann. Klar ist auch, dass Wing Tsun für eine Frau von einer Frau entwickelt wurde. Die Wurzeln des Wing Tsun ist die Weichheit, also das intelligente Nutzen der Kraft des Gegners gegen ihn selbst. Durch diese intelligente Weise sich mit einem aggressiven Problem, dem Kampf, zu befassen, entstand ein logisch strukturiertes, in sich geschlossenes, wissenschaftliches Kampfkunstsystem.

Denn bei Kampfkunst liegt die Betonung auf Kunst und sich selbst Ausdrücken, bei Kampfsport auf Wettkampf mit sportlichen Regeln. Wing Tsun ist die Wissenschaft zu kämpfen. Und so schließt sich der Kreis und eine Legende wurde geboren. Denn eine Frau namens Ng Mui gründete das System, eine Frau namens Yim Wing Tsun gab dem System ihren Namen, ein Mann namens Yip Man machte das System der Öffentlichkeit zugänglich und ein Mann namens Bruce Lee machte es weltberühmt: Wing Tsun-Kung Fu.

 

Text: Michael Derpsch, 09 / 2013

 

Sifu Michael Derpsch

Mit 6 Jahren begann Michael Derpsch diverse Kampfsportarten zu trainieren und kam 1997 zum Wing Tsun. Seine lehrende Tätigkeit begann er in der EWTO Academy Frankfurt, setzte sie als Privatlehrer fort und ist nun Leiter seiner eigenen Wing Tsun Schule in Hasselroth Gondsroth. 2010 wurde Michael Derpsch offiziell zum Sifu of Wing Tsun ernannt und bildet sich weiterhin bei diversen Sifu´s sogar über die Grenzen Deutschlands hinweg weiter.

 

citysports-Detailseite der Wing Tsun Schule in Hasselroth